Do, 28. Juni 2018, 18.30
Vortrag in der Welser Straße 20
Dr. Helga Sedlmayer & Klaus Freitag, MA (Österreichisches Archöologisches Institut, Wien)
Die im Zuge der Markomannenkriege in den 70er Jahren des 2. Jahrhunderts n. Chr. erfolgte Stationierung der Legio II Italica in Lauriacum/Enns brachte einerseits den Bau des Legionslagers und andererseits eine weiträumige Erschließung des Umlandes mit sich. Neben den Frauen und Kindern der rund 6000 Soldaten ließen sich außerhalb der Lagermauern verschiedenste Gewerbetreibende nieder. Aktuelle Forschungen am Österreichischen Archäologischen Institut (ÖAW/ÖAI) führten mittels geophysikalischer Prospektionen und deren Kombination mit bisherigen Grabungsergebnissen zu einem neuen Gesamtplan der Siedlungsräume. Dieser ermöglicht grundlegende Erkenntnisse zur Ausdehnung, Struktur und historischen Entwicklung von Lauriacum/Enns.
Innerhalb der in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr. mit etwa 85 ha maximal ausgedehnten Siedlung sind sechs Zonen mit unterschiedlicher Bebauung auszumachen: Die westlich und südlich des Legionslagers auf einer erhöhten Schotterterrasse gelegenen Zonen 1 und 2 sind durch größere Gebäude mit Wandmalerei und aufwendigen Heizanlagen charakterisiert. Öffentliche Gebäude wie das Forum und die Thermen in Zone 1 lassen ferner darauf schließen, dass es sich dabei um jenen Bereich handelt, der unter Kaiser Caracalla (211–217 n. Chr.) zum Municipium erhoben wurde, während die restlichen Areale weiterhin unter Militärverwaltung blieben (Canabae). Die an der westlichen Peripherie und im Norden gelegene Zone 3 ist hingegen durch kleinflächigere Bauten geprägt, die häufig über wirtschaftliche Installationen verfügten. Zone 4 setzt sich aus Grubenhütten und Erdkellern in Holz-Erde-Bauweise zusammen, Zone 5 beinhaltet zahlreiche Öfen. Die am Kristeiner Bach und einem heute verlandeten Flussaltarm gelegene Zone 6 definiert schließlich den Bereich eines Hafens, der durch die Erwähnung eines praefectus classis Lauriacensis in der Notitia Dignitatum (occ. XXXIV 43) zwar indiziert, bis zu den geophysikalischen Prospektionen allerdings nicht lokalisiert war.
Zerstörungen kurz nach 250 n. Chr. stehen am Beginn einer rückläufigen Entwicklung, die im späten 4. Jahrhundert n. Chr. in der Aufgabe aller Siedlungsbereiche außerhalb der Lagermauern und der darauf folgenden Nutzung des Legionslagers als Siedlungsareal resultierte.
Die Auswertung umfangreicher Denkmalschutzgrabungen auf den Betriebsgründen der Firma Pfanner in Enns-Lorch erlaubt tiefe Einblicke in die wirtschaftlichen Grundlagen der für die Legio II Italica werktätigen Bevölkerung. Das untersuchte Areal erbrachte römische Befunde auf rund 7600 m², die sich rund 430 m nordwestlich des Legionslagers erstreckten (Zone 3c). Die Bewohner dieses Abschnitts der Lagersiedlung (Canabae) waren in unterschiedlichen Wirtschaftszweigen tätig, von der Töpferei über die Herstellung von Buntmetallobjekten bis hin zur Knochenschnitzerei und der Gerberei sowie der Weiterverarbeitung von Leder. In den ersten Jahrzehnten des Bestands der Lagersiedlung florierte eine Keramikproduktion, die neben Alltagsgeschirr auch Spezialprodukte wie dekorative Kaminaufsätze, Lampen und Terrakottafiguren erzeugte. Typische Formen der Produktpalette lassen darauf schließen, dass so mancher Arbeiter dieser Töpferei aus entfernten Regionen (Mittel-/Oberitalien) stammte.
Herausragend im Fundspektrum dieses Grabungsplatzes ist zudem eine Münzgussform, die eine in Enns betriebene Herstellung von Gussdenaren indiziert. Diese sind nicht als antike Münzfälschungen zu verstehen, sondern vielmehr als eine bedarfsorientierte lokale Fertigung eines Ersatzgeldes.
Alle wirtschaftlichen Tätigkeiten der in den Canabae arbeitenden Bevölkerung waren auf die Heeresversorgung abgestimmt, die Bewohner des Lagerdorfes unterstanden verwaltungstechnisch direkt dem Kommandanten der Legion. Ihre Rechtssicherheit nach römischem Maßstab lässt sich anhand eines als Graffito überlieferten Vertrags mit Arbeitspensum nachvollziehen. Das Leben in Abhängigkeit vom Militär brachte viele alltägliche Vorteile: Insbesondere ab severischer Zeit flossen die Finanzmittel besonders reichlich in die Militärkassen, die Auftragslage war somit durch den Bedarf der Truppe auf Dauer gesichert und der steuerfreie Bezug von Waren durch die Soldaten war ein weiterer Anreiz für die Produzenten. Diese Zeiten der Hochkonjunktur sind im hier untersuchten Siedlungsabschnitt der nordwestlichen Canabae bis in die mittleren Jahrzehnte des 3. Jahrhunderts n. Chr. durch eine besondere Reichhaltigkeit der archäologischen Quellen zu illustrieren. Wie auch in unseren Tagen war aber auch in der Antike der Abschwung im Konjunkturzyklus nur eine Frage der Zeit. Dieser war in der Lagersiedlung kurz nach 250 n. Chr. mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund eines feindlichen Übergriffes so einschneidend, dass die daraus resultierende Rezession zur völligen Aufgabe der Gewerbe und sonstiger Nutzung in diesem Siedlungsabschnitt führte.